In memoriam Herr W.
© Reinhard Sichert
Ich traf ihn pünktlich jeden Morgen
Auf meinem Weg zur Straßenbahn.
Denn da ging täglich jener Mann,
Sich eine Zeitung zu besorgen.
Von meiner alten Haltestelle
Konnt‘ man den Zeitungsladen sehn –
Für viele im Vorübergehn
Allmorgendliche Wissensquelle.
Ich fragte mich, was jenen Mann,
Der wahrlich hochbetagt schon war,
So früh, bei Schnee und Regen gar
Zu diesem Gang bewegen kann.
Obwohl er mir durchaus bekannt,
Hab ich ihn niemals angesprochen.
Doch später dann, nach ein paar Wochen,
Hat jemand ihn Herr W. genannt.
Der alte Mann blieb plötzlich weg,
Hab ihn fortan nicht mehr gesehn.
Dann sah ich seinen Namen stehn
Mit schwarzem Rand – ein kurzer Schreck.
Jetzt bin ich selbst ein alter Mann
Und Arbeit ist ein Fremdwort schon.
Wach zeitig auf – oh welch ein Hohn! –
Obwohl ich lange schlafen kann.
Inzwischen kann ich gut verstehn,
Warum Herr W. so emsig war.
Auch ist mir mittlerweile klar:
Er konnt nicht schlafen, musste gehn
Zum Zeitungsladen im Quartier,
Denn dort war er nicht mehr allein
Und kaufte seine Zeitung ein.
Ich wünschte, beide wärn noch hier.
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